Seen

Wien u. Umgebung im zweiten Herbst der Pandemie

 

6. September 2021

Wie funktioniert der Herbst?

Er ist eine letzte Phase des Sommers.

Die Wiese auf dem Hügel ist in Grün und Braun gestrichen.

Juli, August: für uns eine stillstehende Zeit. Der Sommer und seine Farben erstarren. Mit dem Herbst kommt wieder Schwung; vielversprechende Nuancen mischen die stillsten Farben durcheinander; das Licht fällt horizontaler jeden Tag. Von einem Tag zum anderen wird das Sommerlicht weicher.

Wieder hergestellt ist eine Chronologie; sie tut unseren Gedanken gut.

Die Zeit bekommt einen sanften, schonenden Rhythmus; sie atmet ruhig, obwohl Bagger unsere Wiese zerstören und die Kastanienbäume krank sind (Unordnung verursachen sie).

Am Karlplatz stellt sich wieder die Frage der Perspektive: nicht aus Sicht des Resselparks, sondern von seinen Rändern. Wie vor zwanzig Jahren, als ich zum ersten Mal in Wien war, bemerke ich, wie kreisrund der Karlsplatz ist. Im Herbst wird spürbar, wie labyrinthisch diese Stadt ist, wie schön und beruhigend das Sich-Verlieren darin sein kann. Ich gehe zu Fuß auf den Heumarkt, zuerst in eine Richtung, dann in die andere, zu verschiedenen Zeiten. Ich stelle mir den Heumarkt wie ein Wimmelbuch vor, das jeden Moment dokumentiert. Dabei entdeckt man eine Menge unterschiedlicher Details. Der Herbst begünstigt fließende Denkformen.

September. Augarten

Wie geometrisch der Herbst wirkt. Die Kronen der Bäume sind nicht viel höher als der Kopf der Spaziergängerin. Die Bäume kreuzen sich symmetrisch entlang der Allee. Der Himmel ist blau. Unter den gepflegten, gleichmäßig gepflanzten und geschnittenen Bäumen herrscht Durcheinander. Unten, auf der durchkomponierten Wiese mit ihren streng-strukturierten Blumenbeeten: bunte sterbende Elemente, ein Verwelken, das Verstreutwerden, das Leben, das die Helle des Lichts aufsaugt. Die Luft ist warm; die Menschen stehen auf der Wiese, unter den Bäumen, aufgerichtet und beobachtend stehen sie da, wie von der Leichtigkeit der Sonne verzauberte Wächter. Auch wenn sie sich bewegen, scheinen sie bewegungslos. Der Park wird vertikal.

3. Okt. 2021

Lois Weinberger: Ausstellung, 21. Haus

Im Herbst werden Erinnerungen fruchtbar. Nov. 2020, Kanada: Die Uni hat das Museumshaus verkauft. Wir haben drei Tage lang getrauert, mit melancholischen Gedichten und Kunst, die wir im Garten der Wildnis begraben haben.

LW sagt: ein Garten ist immer unterirdisch. Er stellt ein Scherbenfeld dar, wo viele Schuhe gesammelt worden sind. Zudem einen Würfel aus Stahlstangen, höher als jeder Mensch; im Würfel entfaltet sich die Vegetation frei, geschützt von der Struktur, die an ein Gefängnis erinnert.

Insekten und Blumen gehören zusammen – diese Poesie. Die Grenze zwischen Wildnis und gepflegter Natur: sie zeigt sich auch im Herbst. Ein Grenzgebiet, das man nur von außen beobachten kann.

Drei Monate lang werden wir Zeuge, wie alles verfault, während wir selbst keinem Verfall ausgeliefert sind. Wir reisen, schreiten voran und archivieren.

Erinnerungen. Die Durchlässigkeit des Herbstes gibt dazu eine eigene, sanfte Dynamik.

Die Erde, die uns von unten Halt gibt, ist die Verbindung mit dem Himmel.

Menschen begegnen sich, reden laut, lachen laut, husten, gehen aneinander vorbei. Letzte Woche wurde der Kanzler abgesetzt. Hier das Getümmel von Impfgegnern, ihre vernunftwidrigen Argumente – ihre grauenhafte Vergesslichkeit. Heute ist die Luft mild und wunderschön, aber durch die Menge gespalten.

Der Leiner

Der Oktober 2021 ist sonnig. Auf der Mariahilfer Straße gehen die Arbeiten am ehemaligen Leiner-Gebäude voran. Riesige Kräne und lärmende Maschinen reißen das Gebäude ab, Stock für Stock ganze Blöcke von leeren inneren Räumen lösen sich langsam heraus. Mit jeder Mauer, die wegfällt, kommen die Arbeiter näher an die Fassade – jene imposante Neunzehntesjahrhundertfassade mit ihren aufwendigen Dekorationen und überdimensionalen Statuen, die das Haus stützen. Der Abriss, der zur Fassade vordringt, gleicht einer dramatischen Szene. Ein paar Menschen bleiben stehen und machen Fotos, als ob sich leise Nostalgie verbreiten würde.

21. Oktober 2021

Der Herbst entwickelt sich, er bekommt Tiefe. Häuser werden kälter. Wir sind glücklich. Der Herbst den Mutigen. In unserer Fantasie heben wir in einem Flugzeug ab. Der Herbst macht die Bäume blau und wichtig.

November 2021

Die Temperaturen sinken, während die Pandemie wütet –es gibt sonnige Nachmittage um die zehn Grad. Jetzt gehe ich selten ins Museum. Auf der Straße drängelt es sich, kaum jemand trägt eine Maske. Man hört, wie Menschen husten und sich räuspern. Täglich werden mehr krank. An der Ecke schreit sich ein Mann in einem Mikrofon die Stimme heiser. Er stolpert über Wörter wie „Menschenrechte“ oder „Meinungsfreiheit“. Ein paar Frauen mit großen Augen halten eine österreichische Fahne vor die vorbeiziehende Menge, die der Groteske keine Aufmerksamkeit schenkt. Dieser Herbst ist satt mit nervösen Parolen. Ich tue mir leid, ein bisschen.

Gut, dann gehe ich doch ins Museum – wo es ruhig ist. Da sind die traurigen Fotos von verlorenen Massengräbern auf einem Feld, wo Frauen ermordet wurden; von Flüchtlingen, die auf Mülldeponien entlang der Grenze ausharren – ein Pushback, unsere Schande – ; von einem ehemaligen Atomkraftwerk, das nie geöffnet wurde und jetzt ein Abenteuerplatz ist für Jugendliche aus der Stadt, die sich fantasievolle Rituale voll des Absurden erdenken.

In der Stadt werden schon Anfang November die Weihnachtsmärkte mit ihren gleichförmigen Hütten aufgestellt. Schon jetzt wird das Ende des Jahres proklamiert.

Unser Zeitgeist, lesen wir, kalkuliert Poesie, abstrahiert sie, rechnet Wörter und Gedanken, reguliert unsere fleißige, fast kühle Umgebung. Literatur ist vielleicht der Mathematik gleich.

Man benutzt das Wort „Faszinosum“ – ein Modewort ist es. Faszinierte, faszinierende Menschen sollen wir sein.

Haben wir Dank für das Chaos des Herbstes, seine Böen und seinen Föhn; die gelben wirbelnden Blätter; die Blumen des unerklärlichen Trauerns; die sinkenden oder überspitzten Gefühle; das Warten auf mehr und weniger.

Ende November 2021

Vier Tage Nebel. Ich habe mich wie selten zuvor in diesen Monaten zu Hause gefühlt. Seit einer Woche gibt es Heizung im Zimmer. Die Zahlen der Pandemie steigen weiter und ich habe mich entschieden, die Stadt eine Woche früher als geplant zu verlassen. Es ist ein schöner Herbst, der für mich plötzlich zum Ende kommt. Als ich das hier schreibe, weiß ich noch nicht, ob er mit einem Lockdown enden wird. Seit Anfang der Pandemie, und auch jetzt, trotz der verschärften Schutzmaßnahmen, spüre ich viel Energie in mir. Prallgelbe Blätter bilden Laubstreifen ganz oben in den Bäumen, entlang der Straßen und im Wald. Das Grün strahlt, und durch die langsam verschwindende Vegetation kann ich zum ersten Mal, da ich noch nie im Herbst in Gugging war, hinter die Hecken und tief in die Gärten, in die Wiesen und ins Unterholz hineinsehen. Noch ein paar raue Blumen hängen fest an vereinzelten Dornen.

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