Heard

Autumn Sweater

1. The Smashing Pumpkins – To Sheila (from Adore © 1998)

… und dann kam dieser Augenblick, als du den Song zum ersten Mal gehört hast und sofort wusstest, dass es einer dieser Songs war, bei denen man der ganzen Welt das Licht abdrehen will, denn man hört den ersten Akkord, leise angezupft, eine weiche Stimme, zwei drei Worte nur, und weiß, dass man ohne all das nicht mehr leben will, man gerät in Panik, weil man bisher ohne all das leben musste, als wäre man betrogen worden, um ein Leben betrogen, das sich mit diesem Song ganz anders gelebt hätte, man mit diesem Song ein ganz anderer Mensch geworden wäre. Und all das begreifst du in der Sekunde, sodass du im Grunde nur mehr allein sein willst mit diesem Song, ihn ergreifen, einfangen, auffressen, dir einverleiben willst, damit er durch den Körper fließt und mit jedem Atemzug heraustritt, ohne je weniger zu werden.

2. The Waterboys – Universal Hall (from Universal Hall © 2003)

Es wäre schon genug, wenn da nur dieser eine Vers stünde, der immer und immer wiederholt würde: I sacrifice my power on the altar of your love/That it may be born again on another world. Ein Vers wie ein Gebet, das allerdings nur im Herbst erhört und angenommen wird, ebenso wie sein Opfer. Der Winter wäre dafür zu eisig und zu klar, der Frühling zu hoffnungsvoll, der Sommer zu fröhlich und zu satt, sodass am Ende nur der Herbst bleibt für ein Opfer, das im Grunde gar nicht zu begreifen ist, so unerhört ist es.

3. David Gray – This Year’s Love (from White Ladder © 1999)

Und wenn du zurückschaust auf das, was gut war, was bleiben darf, dann stellst du fest, dass die Dinge mit den Jahren ihre Konturen verlieren, fließender werden, und auch die Jahre selbst nicht mehr greifbar sind, sondern nur mehr ein Gerüst darstellen, das sich zusammenreimen lässt aus all den vergangenen Kalenderzahlen, denen man seltsam unberührt hinterherschaut, weil man für jeden Tag und jede Stunde zwar weiß, dass man darin gelebt hatte, doch was genau man die ganze Zeit über getan hat, das bleibt schleierhaft. Die Klarheit, mit der du als Schulkind jede neue Zukunft auf dich zukommen sahst, es kaum erwarten konntest, bis die nächste Schulstufe erreicht und dann auch schon wieder vorbei war, überhaupt die Klarheit, mit der du damals konsequent nach vorne geschaut hast, ohne je betrübt zurückzuschauen, weil es ganz einfach noch keinen Stoff für Nostalgie gab, diese Unschuld im Werden, das Draufgängerische, das fehlt dir heute an dir selbst.

4. Yo La Tengo – Autumn Sweater (from I Can Hear the Heart Beating as One © 1997)

Dann also klopft es irgendwo an der Tür ein letztes Mal und ich nehme das Klopfen als ein Zeichen endlich aufzubrechen hinaus durch den Hinterausgang ins goldene Licht einer am Untergang stehenden Sonne, in die ich am liebsten einen Pinsel tauchen würde und die ganze Erde damit übermalen am Ende auch mich selbst sodass ich ganz Farbe werde und Bild zugleich und dir dabei zusehe wie du hineingezogen wirst in den bunten Strom und wir uns an den Händen greifen bis nur mehr dein Herbstmantel zurückbleibt an der Oberfläche und flackert wie ein Segel im Wind.

5. Pomegranate – Candy Bliss (from On Black Peak © 2003)

Zeitlupenseifenblasen / tänzeln durch die Luft / und tragen zart umhüllt / das kostbare Gut meines Odems / in die Welt hinaus. / Eine Kugel zerbrechlicher wie die andere, / halten sie mich gefangen in ihrer Membran, / meinen schweren Atem, / der zuvor Luft schnappen musste vor lauter Aufregung, / dann wieder anhielt, stockte und weiterlief, / weil er dich nicht fassen konnte. / Und also warte ich auf die unsichtbare Nadel, / die mich aus dem Nichts zerplatzen lässt, /bis ich mich endlich verflüchtigt habe.

6. Primal Scream – Keep Your Dreams (from XTRMNTR © 2000)

Lange Zeit dachte ich, der Underground wäre ein Ort unter der Erde, eine zweite Welt mit Wellblechbuden, schlammigen Straßen und Menschen, die vor brennenden Ölfässern stehen, eine Welt, in der es immer düster, feucht und dreckig ist. Erst mit der Zeit begriff ich, dass Underground auch eine Metapher sein kann, die auf das verweist, was sich der Oberfläche entzieht, auf das Verborgene und Geheime, den Reiz, außerhalb der Norm zu leben. Vielleicht ist dieser Entzug in vielen Fällen gar kein freier Entschluss, sondern ein unscheinbarer, schleichender Prozess. Man lebt vor sich hin und findet sich irgendwann in einer anderen Welt wieder, ohne zu wissen, wie, wo und wann es geschah, dass man ein Anderer geworden war. Eine Verwandlung ähnlich jener, die jedes Jahr die Unmengen an Laubblättern durchmachen, die im Herbst zunächst noch farbenprächtig die Bäume schmücken, bevor sie herabfallen, den Boden bedecken und dahinwelken, bis sie vom Untergrund einverleibt werden. Der Boden saugt die Blätter in die Tiefe, wobei trockene Böden besonders gierig sind – sie bekommen Risse und klaffen wie offene Münder, die Nahrung brauchen. Die Blätter indes, die die Erde anreichern, sind dann genau genommen keine Blätter mehr, sondern Teil eines neuen Erdreichs.

7. Radiohead – Everything in its Right Place (from Kid A © 2000)

Wir fuhren auf der gleißenden Autobahn im stockenden Verkehr, die Hitze glühte, das Auto fühlte sich an wie ein Hochofen. Hinter uns lag das Meer, zwei Wochen an einer schattigen Bucht in Kroatien, Wein, Fisch, Wasser. Als die Musik aus war, legte Matthias am Steuer eine andere CD ein. Sofort erkannte ich Radioheads OK Computer und dachte: Oh mein Gott. Man kann doch jetzt nicht Radiohead hören. Dieses Album ist viel zu gut für diesen Stau. Außerdem war es Sommer, man durfte Radiohead doch nur im Herbst oder Winter hören! Niemals bei Sonne, niemals am Meer, niemals im Garten oder auf dem Berg, auch nicht im Auto oder im Flugzeug. Im Grunde konnte man Radiohead überhaupt nur unter bestimmten Umständen hören, dann, wenn die Dinge nicht klar waren, die Farben gemischt und die Aussichten durchwachsen. Dann war sozusagen alles an seinem richtigen Platz. Ich bat Matthias ohne Widerrede, die Musik zu wechseln. In meiner Radiohead-Biografie gab es keine schönen Tage.

8. Wilco – How to Fight Loneliness (from Summerteeth © 1999)

Neulich erschrak ich, als meine Tochter für ein Foto lächelte. Sie ist vier Jahr alt, ein fröhliches Kind, das viel und gerne lacht. Gleichzeitig möchte ich sie nicht zu einer Dauerlächlerin erziehen und bin daher stets zurückhaltend, wenn ich sie um ein Foto bitte. Dennoch wurde es mit der Zeit unvermeidbar, dass sie gelernt hat, in bestimmten Situationen auf bestimmte Weise zu lächeln. Sie lernte schnell. Mehr und mehr entkoppelte sich das Lächeln von ihrem Gemütszustand, es wurde unabhängig. Neulich erschrak ich, weil das Lächeln plötzlich gar nicht mehr zu meiner Tochter passen wollte. Es war beinahe unheimlich.

9. Beck – Side of the Road (from Sea Change © 2002)

Es gibt in der Stadt, in der ich lebe, eine Frau mit krummen Beinen, die nichts anderes tut als vor sich hin zu gehen. Ohne Grund, ohne Ziel. Schwer zu sagen, wie alt die Frau ist, vielleicht fünfzig, vielleicht sechzig Jahre alt, jedenfalls ist sie klein, verschrumpelt und zerzaust. Sie wirkt wie kleingeschrumpft, als würde sie mehr und mehr zum Zwerg. Nichts an der Frau ist schön: ihre Kleider sind zerschlissen, Fetzen und Lumpen, die herabhängen, die Haare dunkel, fett, struppig, eine schwarz umrandete Brille, die schief sitzt, das Gesicht entstellt durch ein offenes Gebiss mit fauligen Zähnen. Alles an der Erscheinung ist abgelebt, dennoch schreitet sie dahin des Weges. Gestützt auf einen Gehstock, an dem sie sich entlangschleift, watschelt die Frau in Schuhen, die Vincent Van Gogh hätte malen können, so voller Misere und Armseligkeit sind sie, löchrig, notdürftig zusammengeflickt, am Ende viel zu groß. Am meisten aber irritiert das Tempo: Die Frau geht so langsam, dass man es kaum aushält. Minutiös setzt sie einen Fuß vor den anderen, eine halbe Schuhlänge nur, bleibt stehen, zieht den anderen nach, bleibt wieder stehen, schiebt den Stock vor, dann wieder den Fuß, und so weiter. Die Frau kriecht wie eine Schnecke, in Zeitlupe verhaftet, ungelenk wie ein kaputter Roboter, selbst Kleinkinder krabbeln schneller. Was anderes kann die Frau den ganzen Tag auch machen als Gehen? Sie geht, als sei es die einzige Möglichkeit, zu überleben, ein Fortschreiten ohne Stillstand, selbst wenn es genau genommen lauter Stillstände sind. Was lässt sie hinter sich, diese Frau? An welchem Straßenrand, wo doch alles Straße ist?

10. Stratus – Rainy Day (from Fear of Magnetism © 2005)

Es ist mein Morgenwunder. Die Tauben versammeln sich auf dem Kirchdach, sie warten ohne Not, bis es losgeht. Dann hebt eine ab und nimmt alle mit, sie kommen in Schwung und fliegen wie eins. Jeden Morgen sehe ich sie zum Schwarm vereint, wie sie den Himmel ergründen, über den Dächern ihre Kurven ziehen, als würden sie da oben ein Revier abstecken. Dieser Anblick kann einen nur staunen machen. Würde ich einen Gottesbeweis suchen, hier wäre er. Alle Erklärungen der Welt lassen mich nicht verstehen, wie es möglich ist, dass diese hundert Tauben wie aus einem Geiste schwingen, bewegt von einem unsichtbaren Magneten.

Wer traurig ist, der sehe einem Schwarm Vögel bei der Arbeit zu. Und beschwingt wird er sein.

11. Sìgur Ros – [Untitled track] (from () © 2002)

Wenn Worte nicht mehr reichen, dann braucht es eine Kunstsprache, die über allem steht, dazu zwei Klammern, welche die leergebliebene Stelle umschließen, die dem Ungesagten seinen Ausdruck gibt. Und dann diese Musik: wie eine Skizze nimmt sie Konturen an, hier einige Sprachfetzen, dort ein angedeuteter Akkord, dann wieder eine Kinderspielmelodie, es knistert und orgelt und fließt, und längst hat man sich verflüchtigt im endlosen All der Harmonien. Man hört nicht mehr, man betet. Auf dass es nie aufhören möge.

12. Hooverphonic – Sad Song (from Jackie Cane © 2002)

Hier wird nicht mit den Augen gezwinkert, auch nichts durch die Blume gesagt. Hier wird lediglich Traurigkeit in Musik übersetzt und der Sehnsucht aus dem Herzen gesprochen. Dabei ist alles so klar und präzise, dass es fast schon indiskret wirkt. Man fühlt sich von der Traurigkeit überführt.

13. R.E.M. – Sweetness Follows (from Automatic for the People © 1998)

Im Grunde sollte man Sweetness Follows nie für sich hören, sondern immer nur als Teil von Automatic for the people, einem Album, das so homogen und so durchkomponiert ist, Herbst durch und durch, dass man es ungern in seine Einzelteile zerlegen möchte. Zumindest aber muss das Lied davor, das wunderbar disharmonische Instrumental New Orleans Instrumental No. 1 (Nr. 5 auf dem Album) gehört werden, denn erst dann entfalten die Cello-Streicher von Sweetness Follows (Nr. 6) ihre wahre Wucht.

Die Cello-Streicher also, sie setzen ein wie eine Baumsäge, drängend und monoton, bis sich eine Orgel zu ihnen gesellt und ihren warmen Teppich ausbreitet. Mit jedem Ton wird klarer, dass diese Harmonien nicht bloß nach Herbst klingen, sondern ihn definieren, und das, was in Kinderbüchern mit gold-braunen Farben dargestellt wird, die Blätter und Kürbisse, Äpfel, Kastanien und Birnen, die Drachen und Laternen, all das in diesen knapp viereinhalb Minuten seinen präzisesten Ausdruck findet. Ich weiß nie, was Michael Stipe mit seinen Texten eigentlich sagen möchte, vielleicht weiß er es selbst nicht. Geht es hier um eine Entfremdung in der Familie, in der man sich gegenseitig nicht mehr betrauern kann? Oder um Brüder und Schwestern in einem allgemeinen Sinne, wonach wir alle unfähig geworden wären, voneinander Abschied zu nehmen? Und warum folgt am Ende – trotzdem – immer wieder das Süße, das Anmutige? Der Song braucht diese Fragen, mehr als alle Antworten. Alles muss offen bleiben, und gleichzeitig fügt sich alles ins Ganze. Wir hören eine Stimme, die nie laut wird oder aufdringlich, die sich in Echoschleifen verliert und – Sisters and Brothers – verdoppelt, dabei stets zurückhaltend bleibt, so wie alles in diesem Song zurückhaltend ist und man sich fragt, ob es irgendwann zur Implosion kommen muss, all das Zurückgehaltene, oder aber schon eine Explosion stattgefunden hat und wir längst auf einem Trümmerhaufen stehen… Am Ende also das Süße, wie ein Dogma. Man möchte meinen, es müsste immer siegen. Und je länger es heraufbeschworen wird, desto mehr drängt sich eine verzerrte Gitarre ins Klangbild, ansteigend im Ton, quälend und bedrohlich. Auch das muss sein. Der Titel Sweetness follows ist ein Diktum, eine Glaubensbotschaft, ein Wahlslogan, Kalenderspruch oder Dichtervers. Hier, mit diesen Streichern, Orgeln, Stimmen, Worten und Rückkoppelungen, kommt das Wort zu seiner elementarsten Form.

14. Bright Eyes – Lua (from I’m Wide Awake, It’s Morning © 2005)

Es ist unfassbar, wie sich Conor Oberst hier von Silbe zu Silbe vorantastet, als würde ihn jedes Wort brechen.

15. Coldplay – Amsterdam (from A Rush of Blood to the Head © 2002)

Man sagt, Menschen sind wie Sterne: Sie leuchten auch dann noch, wenn sie längst gestorben sind. Und wenn die Nacht klarer wird, sehen wir die große Familie vereint über uns.

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